Zum Tod von Jacques Rozier

Diverses 5. Juni 2023

Der am 2. Juni im Alter von 96 Jahren verstorbene «letzte Überlebende der Nouvelle Vague», wie ihn sein Freund Jean-Luc Godard nannte, war eng mit der Cinémathèque suisse verbunden, die zusammen mit der Cinémathèque française zur Restaurierung seiner Filme beitrug. Im Januar 2022 zeigten wir in unseren Lausanner Kinos eine Retrospektive seines Werks. Alle seine Filme werden nun in der Schweiz von unserer Institution vertrieben.

Dank Rui Nogueira lernte ich Jacques Rozier vor rund zwölf Jahren kennen. Er begleitete ihn ins Casino de Montbenon, wo wir uns in den Gärten zu einem Essen trafen. Ich war ergriffen und beeindruckt, diesen renommierten Vertreter der französischen Nouvelle Vague an diesem Ort in Lausanne zu treffen. Ich liebte seine Filme – insbesondere den leichten und zugleich ernsten Adieu Philippine und den unvergesslichen Maine Océan, der damals (1986) am Festival du film de Comédie in Vevey entdeckt worden war.

Rozier kam mit Problemen («wie so oft», müsste ich fast sagen). Nach der Schliessung mehrerer Labors in Paris konnte er einige seiner Filmnegative nicht aus der Konkursmasse lösen, da dies mit Kosten verbunden war. Wir halfen ihm dann dabei. Und später war es dank der Energie und Geduld der Cinémathèque française, unserer Unterstützung und der Unterstützung des Filmarchivs von Monaco möglich, einen Grossteil seines Werks zu restaurieren.

Jean-Luc Godard «entdeckte» Rozier am Festival de Tour, wo er seinen zweiten Kurzfilm, Blue Jeans, zeigte.1962 entstand sein erster Spielfilm, Adieu Philippine, dessen scheinbar romantische Leichtigkeit den Schatten des Algerienkriegs verschleiert. Dieser Film, der in der Semaine de la Critique in Cannes präsentiert und ausgezeichnet wurde und heute als einer der Referenzfilme der Nouvelle Vague gilt, hätte der Beginn seiner Karriere sein sollen, doch wie so oft bei Rozier führten gescheiterte Projekte, fehlende Finanzierung oder ganz einfach nur Pech zu einem Hindernisparcours mit vielen Rückschlägen und kommerziellen Misserfolgen.

Denn Jacques Rozier war ein zutiefst unabhängiger Regisseur, der entschieden einen neuen filmischen Ausdruck suchte, in dem sich Dokumentation und Fiktion, Laienschauspieler und Professionelle mischen, die Zeit verzögert oder beschleunigt wird und das Unerwartete einen immer wieder von Neuem mitreisst. Der Geist, die Energie und der Humor, die aus seinen Filmen sprechen, verleihen ihnen eine aussergewöhnliche Jugendlichkeit. 1996 erklärte Rozier in der Zeitung Libération: «Ich hege eine tiefe Verachtung für Regisseure, die mit ausgestrecktem Finger und dem Auge am Sucher dirigieren. Ich verabscheue den Sucher; er ist das Zeichen des Chefs und nützt gar nichts. Wenn man das Kino als Erbe der Gebrüder Lumière sieht, dann ist es besser, für alles empfänglich zu sein, was während der Dreharbeiten geschehen kann, und nicht alles im Voraus zu planen und zu kadrieren.»

Er gab Schauspielern wie Bernard Menez (in Du côté d’Orouët und Maine Océan) oder Pierre Richard, den er zusammen mit Jacques Villeret im beeindruckenden Werk Les naufragés de l’île de la Tortue filmte, einige ihrer schönsten Rollen: «Jacques brauchte die Filmmagazine stets ganz auf, und nach jeder Aufnahme, mussten wir – da wir ihn nicht <couper> sagen hörten – die Stille überbrücken und die Unbehaglichkeit des Augenblicks ertragen. Rozier bediente sich all dessen. Ihn interessierte nicht die Linie, sondern das, was sich zwischen den Linien befindet, die Vertiefungen. Alles, was uns entgeht, was wir nicht kontrollieren können. Jemanden etwas fühlen lassen, was er normalerweise nicht fühlt. Zu sehen, wie er sich darüber wundert oder es gar nicht wahrnimmt. Er liebt die Auslassungspunkte.»

Dies schrieb Joaquim Lepastier in einem schönen Text, den er ihm im Rahmen der Retrospektive der Cinémathèque française widmete: «Von den Cineasten der Nouvelle Vague ist Rozier derjenige, der sinniert. Der es liebt, wenn alles schiefläuft, damit er seinen ganz besonderen Sinn für Dramaturgie besser entfalten kann.» Jacques, du wirst uns fehlen.

Frédéric Maire

Jacques Rozier en 1979 © Laszlo Ruszka / INA