Die Cinémathèque suisse trauert um einen der grössten Schauspieler (und Cineasten) unseres Planeten; er ist im Alter von 94 Jahren in Paris gestorben. Denn obwohl er Franzose – mit weit zurückliegenden Tessiner Wurzeln (jawohl!) – war, gehörte er vor allem dem Theater und Film der ganzen Welt. 2007 schrieb Dominique Païni: «Nennt man die vielen Namen der Cineasten, mit denen Michel Piccoli gearbeitet hat, ergibt sich gewissermassen ein ideales Verzeichnis des weltumspannenden Kinos: Hitchcock, Renoir, Buñuel, Godard, Rivette, Demy, Varda, Oliveira, Ferreri, Bellocchio, Sautet, Chahine, Tavernier, Cavalier, Doillon, Moretti, Carax ... Diese Liste raubt einem den Atem, und man kann es sich kaum vorstellen, dass ein Schauspieler eine solche Reise gemacht haben könnte.» Von seinem Debüt unmittelbar nach Kriegsende bis heute wirkte Michel Piccoli in über 200 Kino- und Fernsehfilmen mit und stand in Inszenierungen der bekanntesten Theaterregisseure auf der Bühne. Von seinen unzähligen Filmen bleiben meinem (sehr) subjektiven Kinogedächtnis vor allem seine Rollen in Le mépris von Jean-Luc Godard (1963), Les demoiselles de Rochefort von Jacques Demy (1967), Dillinger est mort von Marco Ferreri (1969), Milou en mai von Louis Malle (1990), Je rentre à la maison von Manoel de Oliveira (2001) und Habemus Papam von Nanni Moretti (2011) in Erinnerung. Erwähnt sei auch seine Verkörperung – sie lag auf der Hand – des Monsieur Cinema in Agnès Vardas humorvoller und ironischer Hommage an die hundertjährige Filmgeschichte, Les cent et une nuit de Simon Cinéma (1995).
Ich hatte die ganz besondere Ehre, diesen aussergewöhnlichen Mann ein wenig kennenzulernen, als ich ihn 2007 in Locarno zur Vorführung des berührenden Wettbewerbsfilms Sous les toits de Paris von Hiner Saleem empfing und ihm anschliessend den Excellence Award verleihen durfte, den ihm die Schauspielerin Ariane Ascaride überreichte. Er verliess Locarno mit einem zweiten Leoparden unter dem Arm, da ihm seine Rolle in diesem Film den Preis für den besten Darsteller einbrachte. Er kam 2009 nochmals zurück, um Le bel âge (anderer Titel: L’Insurgée), den ersten Spielfilm des Regisseurs Laurent Perreau, zu begleiten. Doch er war schon viele Jahre zuvor, nämlich 1994, nach Locarno gekommen, als er als «junger» Regisseur von … 69 Jahren seinen ersten Kurzfilm, Train de nuit, vorstellte. Später drehte er drei Langfilme, die alle seinen sehr modernen – und immer noch unglaublich jungen – Blick vermitteln.
In meiner Ergriffenheit, dass er nun zu den Sternen entschwebt ist, entsinne ich mich seiner grossen Neugier, seines unstillbaren Wunsches, immer wieder neue Wege zu gehen, mit Unbekannten zu arbeiten, Unwägbares anzunehmen und dabei immer präsent, menschlich und warmherzig mit den ihn umgebenden Menschen zu sein. Selten habe ich einen so berühmten Menschen gesehen, der diese Aufgeschlossenheit und dieses Interesse für andere zeigte. 1986 sagte er in Les Cahiers du Cinéma: «Man muss sein Handwerk immer weiterentwickeln, man weiss nie, wenn man auf die richtige Konstellation trifft, also muss man reisen».
Ich erlaube mir nochmals, den ehemaligen Direktor der Cinémathèque française, Dominique Païni, zu zitieren, der ihn in den folgenden Zeilen zutreffend beschreibt: «Michel Piccolis wichtigste Tugend ist, den Genius anzunehmen und zu verkörpern. Und er hat ihn oft besucht! Er schenkt den Cineasten Achtsamkeit, sein Äusserstes und eine Kraft, eine monumentale Energie, von der eine Inszenierung nur profitieren kann. Dass Piccoli seinerseits Regisseur wurde, überrascht nicht. Anarchismus, Melancholie und Unordnung sind Teilskizzen dieses Mannes. An die Figur des Verführers musste man sich erst gewöhnen. Seine Fähigkeit zur Metamorphose ist faszinierend. Auf ein bestimmtes Thema des Drehbuchs tiefer eingehen zu können oder die Persönlichkeit eines Cineasten zieht ihn unwiderstehlich an. Experimente noch stärker. Piccolis Geheimnis ist, dass er Geschmack hat!
Michel Piccoli ist eine durch und durch moderne Person. Erstens, weil er den modernsten Filmkünstlern gedient hat: Ferreri, Godard, Rivette ... Und zweitens, weil seine Formbarkeit real und zugleich vorgetäuscht ist. Er drückt intensivste Hingabe aus, gleichzeitig aber auch Zurückhaltung und Urteilskraft, die auch durch viel Wärme nicht geschmälert werden. Sein Interesse bleibt unersättlich. Ihn zu würdigen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zu viel hat er gemacht, erfunden und den Autoren und dem Publikum geschenkt. Kommt man ihm näher, möchte man ihn gar nie mehr aus den Augen verlieren, so stark wächst man an seiner Freundschaft.»
Als Freund von Freddy Buache und der Filmarchive kam Michel Piccoli 2008 in die Cinémathèque suisse, um Mado von Claude Sautet zu präsentieren, anlässlich der Proben für für Minetti von Thomas Bernhard im Théâtre de Vidy und einer Retrospektive zu seinen Ehren. Für die DVD-Box, die wir Freddy Buache gewidmet hatten, schrieb Michel Piccoli: «Wir danken diesem Reisenden, der dem Kinosaal Magie verliehen hat». Ich möchte diesen Satz dem Autor zurückschicken, denn auch er brachte fast 75 Jahre lang wunderbare Magie in die Kinosäle. Frédéric Maire
Frédéric Maire
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