Lange Zeit blieben die Filme des französischen Cineasten Jean Eustache fast unsichtbar – in abgenutzten und von vielen Durchläufen beschädigten Kopien. Heute sind dank der Initiative der legendären Produktions- und Verleihfirma Les Films du Losange – mit der Unterstützung der Cinémathèque suisse – alle seine Filme restauriert und digitalisiert, sodass sie nun endlich wieder in Kinos, in einer von Carlotta herausgegebenen DVD-Box gesehen werden können – und schliesslich auch im Cinema Capitole, das dieses Werk, dessen Kompromisslosigkeit und Feinheit Generationen von Filmbegeisterten geprägt haben und immer noch prägen, im Programm hat.
Jean Eustache wurde 1938 in Pessac bei Bordeaux geboren und liess sich im Alter von 20 Jahren in Paris nieder, wo die Cinephilie ihre Hochblüte feierte. Er pflegte den Kontakt zu den Cahiers du cinéma und der Cinémathèque française und nahm 1962 an den Dreharbeiten zu Eric Rohmers La boulangère de Monceau teil, der ersten seiner sechs moralischen Erzählungen. Im folgenden Jahr drehte er seinen ersten mittellangen Film, Les mauvaises fréquentations, und folgte damit den Autoren der Nouvelle Vague. Mit Le père Noël a les yeux bleus (1966), der mit Hilfe von Filmabfällen von Masculin féminin (1966) von Jean-Luc Godard entstand, begann Eustache Filme zu machen, die «niemand an seiner Stelle machen könnte» (Serge Daney), indem er der Realität Vorrang gab, ohne jedoch das Schöne der Fiktion zu vernachlässigen.
Eustache, der als Editor für Fernsehdokumentationen über Murnau und Renoir (seine Wegweiser) arbeitete, drehte jedoch weiterhin Filme: La Rosière de Pessac (1968), in dem er ein traditionelles Fest in seiner Heimatstadt filmte, Le Cochon (1970), der die Schlachtung und Zerlegung eines Schweins durch Bauern schildert, Numéro zéro (1970), in dem ihm seine Grossmutter ihre Kindheitserinnerungen erzählt. Er wird von einem absoluten Vertrauen in die Kraft des Films angetrieben und schafft es, «aus dem alltäglichsten Alltag eine nie versiegende Quelle von bewegenden, komischen und geheimnisvollen Ereignissen zu machen» (Vincent Adatte).
La Maman et la Putain (Grosser Preis der Jury des Festivals von Cannes 1973), der auf verblüffend natürliche Weise die ganze Palette menschlicher Verhaltensweisen vereint, bleibt zweifellos einer der schönsten Filme der Welt. Der von der Kritik gelobte und kommerziell erfolgreiche Film, «das erste Meisterwerk, das wirklich zu uns spricht» (Godard) ermöglichte es Eustache, Mes petites amoureuses (1974) zu drehen, eine Beschreibung seiner Jugend in Narbonne. Der relative Misserfolg dieses doch wunderbaren Films zwang ihn dazu, wieder unsichere Arbeitsverhältnisse einzugehen, wobei er seinem Wunsch, nicht um jeden Preis zu drehen, treu blieb, auch wenn der Preis dafür hoch war. Es folgten: Une sale histoire (1977), «ein verblüffendes und beflügelndes Meisterwerk» (Jean-Michel Frodon), ein zweiter Rosière de Pessac (1979), Le Jardin des délices (1980), eine wahnwitzige Analyse des Gemäldes von Bosch, Les Photos d’Alix (1980), dessen Ton und Bild nicht zwingend zueinander passen, Offre d’emploi (1980), ein ironischer Kommentar zu seiner Situation als Filmemacher.
Am 5. November 1981 schloss Eustache seine Tür, die er, wie er sagte, so gern mit: «Jean Eustache, Filmemacher für Hochzeiten und Bankette» angeschrieben hätte. Wenige Tage nach seinem Selbstmord schrieb der Kritiker Serge Daney in der französischen Zeitung Libération: «Jean Eustache war mehr als ein Autor, seine Filme waren gnadenlos persönlich». Dringend (wieder) zu entdecken.
Frédéric Maire